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03-Väter und Söhne
Dag legte auf, brauchte aber noch einige Sekunden um die Fassung wieder zu erlangen. Dann dachte er sich, dass es vielleicht ein Scherz war, vielleicht ein Kollege, eventuell Rick aus dem chemischen Labor. Vielleicht war es auch ein alter Schulfreund, oder aber es hatte wirklich etwas mit dem Karton, der darin befindlichen Tüte und deren Inhalt zu tun. Wenn dem so sei, dann wurde er bestimmt beobachtet. Durch das Fenster? Gab es Wanzen in seiner Wohnung? Halbseitig meldete sich die Gänsehaut zurück. Er war kein paranoider Mensch, zumindest nicht mehr. Er erinnerte sich daran, dass er als Kind im ersten Jahr im Kinderheim extrem paranoid war. Er fühlte sich rund um die Uhr beobachtet. Eine Zeit lang dachte er sogar, dass seine Eltern noch leben und er nur in einem Experiment gefangen sei. Wie ein Objekt einer Verhaltensforschung. Wenn er nachts in seinem Bett lag und die Raufasertapete anstarrte, stellt er sich vor, dass jeder der farbigen kleinen Punkte eine Kamera sei. Irgendwo saßen viele Menschen und würden jede noch so kleine Bewegung von ihm beobachten und darunter waren auch seine Eltern. Eine kurze Zeit lang dachte er sogar darüber nach, dass diese Personen vielleicht nie seine Eltern waren. Vielleicht waren es Schauspieler und als er später als Erwachsener den Film „Die Truman Show“ sah, musste er wieder daran denken: sein erstes Jahr im Kinderheim und wie ihn seine eigenen Gedanken wahnsinnig machten.
Genau das gleiche Gefühl hatte er soeben. Er schloss kurz die Augen, atmete tief ein und anschließend wieder langsam aus und er hatte sich wieder im Griff. „Ganz ruhig Dag. Es gibt nur die drei Möglichkeiten und keine davon ist eine ausgewachsene Panik wert.“ Das war natürlich nicht ganz richtig, aber er wollte sich nicht vorstellen, wenn es der Wahrheit entspräche, dass er seit Jahren beobachtet wurde.
Langsam öffnete er die Tüte und zog dessen Inhalt heraus. Anschließend setzte er sich auf sein weißes Ledersofa und schaute zuerst den Einband an. Es schien aus schwarzem Kunstleder zu sein, wie es oft in den 1980er Jahren verwendet wurde. Man sah dem Einband schon an, dass das Buch wohl häufig benutzt wurde. Dag irritierte zunächst, dass er keinen Titel sehen konnte. Es war schlicht ein Buch ohne Namen. Bevor er seinen Inhalt lüften wollte, drehte er das Buch zu allen Seiten hin, schaute sich die abgenutzten Ränder an, die leicht vergilbten Kanten, als hätte das Buch ein paar Mal zu oft in der Sonne gelegen.
Dag nahm es näher zu sich und roch am Einband. Der Geruch ließ für ihn drei Schlüsse zu. Erstens handelte es sich wirklich um Kunstleder, da sich echtes Leder hiervon deutlich unterschied. Zweitens erkannte er, dass das Buch wirklich lange dort gelegen haben muss. Eigentlich war er sich dessen bereits sicher, aber der Geruch war ein weiteres Indiz dafür. Zu guter Letzt aber bemerkte er noch viele andere Gerüche, welche er aber nur schwer identifizieren konnte. Wollte er es romantisch ausdrücken, so hätte er gesagt, es handelt sich um die Reste einer längst vergangenen Zeit. Als Wissenschaftler hätte er eher darauf hingewiesen, dass es sich bei den Molekülen, welche er als Geruch wahrnahm, um Abbauprodukte anderer Moleküle handelt oder um chemische Reaktionen selbiger. Wahrscheinlich war der größte Anteil der Gerüche aus einer Reaktion zwischen dem Kunstleder und der Tüte entstanden. Während er darüber nachdachte und das Buch noch in seiner Hand hielt wurde ihm auch schnell klar, warum sein Freundeskreis eigentlich nur ein Dreieck war, bestehend aus ihm und zwei Kollegen.
Sehr schönes Buch mit vielen Geheimnissen zum entdecken.